Meldungen aus dem Bezirksverband Braunschweig
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Die Europäische Union als Friedensprojekt verstehen: Auf den Spuren des Ersten Weltkrieges

Tagebuch einer Studienfahrt in die Picardie und den Artois mit dem Gymnasiums Am Bötschenberg (Helmstedt)

Der Ring der Erinnerung (Anneau de la Mémoire), Notre-Dame de Lorette bei Souchez. Rainer Bendick

Im Seminarfach „Geschichte sichtbar machen“ kooperiert das Gymnasium am Bötschenberg (Helmstedt) seit vielen Jahren mit dem Bezirksverband Braunschweig. Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten Geschichts- und Erinnerungstafeln für den St.-Stephani-Friedhof. Er zählt mehrere Kriegsgräberfelder aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg.

In diesem Schuljahr werden die Schülerinnen und Schüler unter anderem eine Geschichts- und Erinnerungstafel für ein außergewöhnliches Gräberfeld erarbeiten. Auf diesem sind russische Kriegsgefangene und deutsche Lazarett-Tote aus dem Ersten Weltkrieg gemeinsam bestattet.

Als die Anlage zu Beginn der 1950er Jahr neu gestaltet wurde, ließ der Volksbund einen Grabstein setzen, auf dem die russischen und deutschen Toten nicht getrennt nach Nationalität, sondern in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt wurden – das erinnert an den Anneau de la Mémoire, den Ring der Erinnerung, der 2014 in der Nähe des französischen Soldatenfriedhofs Notre-Dame de Lorette bei Souchez eingeweiht wurde. Dort sind die Soldaten aller Länder in alphabethischer Reihenfolge aufgeführt, die im Nord-Pas-de-Calais zwischen 1914 und 1918 starben. Diese Form der Erinnerung gilt als wegweisend für eine europäische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, die enge nationale Perspektiven überwinden und den Blick auf den Anderen, den ehemaligen Feind, öffnen will. In Helmstedt gibt es – in Miniatur – ein solches Gedenkmal bereits seit vielen Jahren, allerdings weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Die Geschichts- und Erinnerungstafel der Schülerinnen und Schüler wird das ändern.

Zur Vorbereitung dieser Arbeit wurde die Studienfahrt in die Picardie und den Artois konzipiert. Die Schülerinnen und Schüler haben sich mit zwei Filmabenden auf die Fahrt eingestimmt. Sie werden natürlich den Ring der Erinnerung besuchen. Sie werden die großen französischen und deutschen Nekropolen besichtigen und die Denkmäler, die überall in der Region an die Schrecken des Kriegs erinnern wie zum Beispiel das kanadische Nationaldenkmal in Vimy. Es zeigt einen jungen Mann, der ein Schwert zerbricht. Wer würde dieser Botschaft nicht zustimmen? Als das Denkmal 1936 eingeweiht wurde, war man sich sicher, dass es nichts Schlimmeres als Krieg gebe. Militärische Gewalt als Mittel zur Verteidigung von Frieden und Zivilisation war nach den Erfahrungen des Weltkriegs undenkbar geworden.

Wir wissen es heute besser. Nur vier Jahre später, 1940, paradierte die Wehrmacht auf den Champs Elysées und die Deutschen errichteten in Frankreich ein Besatzungsregime, das die Deportation und Ermordung von 75.000 Menschen ermöglichte, die nicht in das nationalsozialistische Weltbild passten.

Darum besuchen wir auch Rethondes bei Compiègne: Dort wurden 1918 und 1940 Waffenstillstände unterzeichnet, die aber keinen dauerhaften Frieden brachten. Und wir beenden die Studienfahrt in Brüssel. Im Europaparlament und im Haus der Europäischen Geschichte werden wir erfahren, wie es der Europäischen Union gelang Feindschaft und kriegerische Gewalt zwischen den Mitgliedsstaaten durch friedliche Kooperation zum Wohle aller zu ersetzen.

Nachstehend das Reisetagebuch der Fahrt. Die Einträge haben wir vom 18. August an täglich bereit gestellt. 

Das Reisetagebuch

Tag 1 – Sonntag 18. August

Es geht los. Um 8 Uhr 30 treffen sich 15 Schülerinnen und Schüler aus dem Seminarfach „Geschichte sichtbar machen“ vor ihrer Schule, dem Gymnasium am Bötschenberg in Helmstedt. Es geht nach Frankreich, in den Artois und die Picardie. Dort werden sie sich eine Woche lang auf den Spuren des Ersten Weltkriegs bewegen.

Alle haben bereits eine Facharbeit zu erinnerungskulturellen Themen verfasst so wie Philip Weigum. Er forschte zum sogenannten „Weihnachtsfrieden 1914“, als deutsche, britische und französische Soldaten die Kampfhandlungen einstellten und sich verbrüderten. Philip ist gespannt in Neuville-Saint-Vaast das Denkmal zu sehen, das an dieses Ereignis erinnert. Julia Neumann erwartet sich Anregungen und Ideen für die Arbeit an den Geschichts- und Erinnerungstafeln, die unmittelbar nach der Rückkehr aufgenommen werden soll.

Nach 9 Stunden Fahrt treffen wir abends in Arras ein und lassen den Tag ausklingen mit einem kleinen Stadtrundgang und mit einem Dîner auf der Place des Héros.

Tag 2 – Montag 19. August

Wir beginnen den Tag in Neuville-Saint-Vaast, keine 10 Kilometer nördlich von Arras. Dort befindet sich der größte deutsche Soldatenfriedhof in Frankreich, auf dem mehr als 44.000 Tote aus dem Ersten Weltkrieg ruhen: Kreuze bis zum Horizont, ein beklemmender Ort.

Die Schülerinnen und Schülern aus Helmstedt sind beindruckt, betroffen. Einen so großen Friedhof haben sie noch nie gesehen. Auf jedem Kreuz stehen die Namen von vier Toten. „Der erste Gedanke, als ich ankam und die ganzen Kreuze gesehen habe,“ sagt Philip am Abend im Rückblick auf den Tag, „war: oh, das sind ja viele! Und jedes Kreuz steht für vier Tote. Da wurde mir klar wie viele Tote unter mir liegen.“

Nur wenige Kilometer entfernt liegt eine Gedenkstätte, die an ein besonderes Ereignis erinnert, das einen Kontrapunkt zu den endlosen Friedhöfen setzt: die Verbrüderungen zwischen feindlichen Soldaten und insbesondere der sogenannte „Weihnachtsfrieden 1914.“ Das Denkmal wurde erst 2015 eingeweiht. Es besteht aus einer Rampe, die auf drei stilisierte Soldaten aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland zuläuft.

Die Botschaft ist eindeutig: Verständigung ist möglich – und so sahen es auch Zeitgenossen. Louis Barthas erlebte die Verbrüderungen und schrieb in seinem Kriegstagebuch: „Dieselbe Leidensgemeinschaft zu teilen, bringt Herzen näher, lässt Hassgefühle schmelzen und Sympathien entstehen zwischen gleichgültigen Menschen und sogar Feinden. Franzosen und Deutsche sahen einander an und stellten fest, dass sie alle Menschen waren. Sie lächelten sich zu, tauschten Worte aus. Männer reichten sich die Hand, umarmten sich und teilten Tabak, einen Viertelliter Saft oder Wein. Ach, hätten wir doch nur die gleiche Sprache gesprochen. Ein Hüne von einem Deutschen stiegt auf einen kleinen Hügel und hielt eine Rede, deren Wort nur die Deutschen verstanden aber alle verstanden den Sinn. Mit einer wütenden Geeste zerschlug er sein Gewehr an einem Baumstumpf. Applaus brandete auf beiden Seiten auf und die Internationale erklang.“ Barthas wünschte sich: „Vielleicht entsteht eines Tages hier im Artois ein Denkmal, um den Männern zu gedenken, die sich verbrüderten.“ Heute steht dieser Satz auf der Schwelle des Denkmals.

Das dritte Ziel des Tages ist die Höhe von Vimy. Sie wurde 1917 von kanadischen Truppen erobert. Für Kanada sind die Kämpfe von großer Bedeutung. Zum ersten Mal kämpften kanadische Truppen unter kanadischen Oberbefehl. Bei dem Angriff fielen 4.000 Kanadier. Darum befindet sich heute das kanadische Nationaldenkmal an diesem Ort.

Im Besucherzentrum informieren wir uns über das kanadische Engagement im Ersten Weltkrieg. Im Rahmen einer Führung besichtigen wir das Tunnel- und Grabensystem.

Am Ende steht das kanadisches Nationaldenkmal auf der Höhe von Vimy, genau dort wo 1917 die heftigen Kämpfe tobten. Aber das Denkmal ist kein Siegesdenkmal. Es zeigt die Verzweiflung der Hinterbliebenen. Ein trauerndes Elternpaar am Eingang, die trauernde Nation dargestellt von einer Frau, die auf einen Sarg blickt, und schließlich ein junger Mann, der das Schwert zerbricht.

Milena fielen die Geschichtszüge der allegorischen Figuren auf. „Sie spiegeln das Leiden wider, das der Krieg verursacht.“ Lykka sah in dem Denkmal eine einzige Warnung vor dem Krieg und eine Mahnung, dass Krieg Probleme nicht lösen könne.

Nach so viel Weltkrieg, Tod und Trauer lassen wir den Tag ausklingen am Ärmelkanal, am Strand von Sainte-Cécile. Friedlich am Meer, Entspannung – was für ein Kontrast zu den Bildern des Tages, viel Stoff zum Nachdenken.

Tag 3 – Dienstag 20. August

Von Arras fahren wir nach Souchez, am Fuß der Loretto-Höhe. Auf ihr befindet sich der größte französische Soldatenfriedhof, Notre Dame de Lorette. In unmittelbarer Nähe liegt der 2014 eingeweihte „Ring der Erinnerung.“ Er enthält die Namen aller 580.000 Soldaten, die während des Ersten Weltkriegs in der Region ihr Leben verloren.

Wie beginnen den Tag aber im „Centre d’Histoire du Mémorial 14-18“, ein modernes Museum, das den Krieg erklärt und dabei Aspekte thematisiert, die in Deutschland oft wenig beachtet werden.

Dem Leben und Überleben der Soldaten wird viel Raum gegeben. „Der prägendste Moment war für mich,“ sagte Jette, „als wir die Habseligkeiten der Soldaten sahen, die persönliche Ausrüstungsgegenstände, die bescheidenen Hygieneartikel, die selbst gebauten Erinnerungsstücke – das spiegelte die Lebensbedingungen der Soldaten wider.“

Die Region war während des Ersten Weltkriegs vier Jahre lang von den Deutschen besetzt. Französische Zivilisten standen unter deutscher Militärverwaltung. Zahlreiche Plakate überliefern ihre Maßnahmen und Anordnungen. Dazu sagte Merle: „Die Wand mit den Plakaten fand ich wirklich beeindruckend. Ich habe mir vorher nie Gedanken darüber gemacht, was für Konsequenzen ein Krieg für die Zivilbevölkerung hat, wenn sie vom Feind kontrolliert wird. In dem Museum geht es nicht darum, was die „bösen Deutschen“ gemacht haben, sondern es geht um die Menschen, die unter dem Krieg litten, obwohl sie Zivilisten waren.“

So liefert der „Centre d’Histoire“ Hintergrundwissen über Menschen im Krieg – über Soldaten wie über Zivilisten. 

Nach dem Museum begeben wir uns zum französischen Soldatenfriedhof Notre Dame de Lorette. Hier ruhen mehr als 42.000 Soldaten der französischen Armee.

Nicht alle waren Franzosen oder Christen. Auf einem großen Gräberfeld sind muslimische Soldaten beerdigt, die aus den französischen Kolonien in Afrika kamen. Ihre Grabsteine sind nach Osten, nach Mekka ausgerichtet. In einem anderen Gräberfeld ruhen Soldaten der französischen Armee jüdischen Glaubens. „Mich hat am meisten erstaunt, dass es auf dem Friedhof eine so große Variabilität von Gräbern gibt, je nach dem welcher Glaubensgruppe die Toten angehörten. Mich wundert, dass darauf Rücksicht genommen wurde“, bemerkt Merle.

Wir gehen weiter zum Ring der Erinnerung. Bislang haben wir nur Friedhöfe gesehen, die an die Toten einer Nation erinnern. In der Regel sind Soldatenfriedhöfe nach Nationalität getrennt. Der Ring der Erinnerung nennt alle Toten, die der Krieg in der Region Nord-Pas-de Calais forderte nicht getrennt nach Nationalitäten, sondern in alphabetischer Reihenfolge. Sie sind in einem riesigen Oval auf mannshohen Stelen verzeichnet.

Der erste Name ist der eines Nepalesen, der in der britischen Armee diente. „Dieser Ring hat mich beeindruckt“, bekennt Pauline, „denn er zeigt, dass nicht nur Deutschland und Frankreich Krieg führten, sondern die Soldaten aus der ganzen Welt kamen. Das fand ich am emotionalsten, die ganzen Namen dort zu sehen und zu überlegen, welche Vergangenheit sie hinter sich haben.“

Wie erinnert man an den Weltkrieg? Wir haben unterschiedliche Ansätze kennengelernt – Inspiration für die Arbeit an der Geschichts- und Erinnerungstafeln für den St.-Stephani-Friedhof in Helmstedt.

Tag 4 – Mittwoch 21. August

Wir sind im Departement Somme. Hier tobte ab Juli 1916 die Somme-Schlacht. Sie war die Schlacht an der Westfront, die die höchsten Verluste forderte: etwa 1 Millionen Soldaten starben, wurden verletzt oder blieben vermisst. Um an diese Schlacht zu erinnern, wurde 1992 in Péronne ein besonderes Museum eröffnet, das „Historial de la Grande Guerre“. Es zeigt den Weltkrieg und die Schlacht aus den Perspektiven der beteiligen Nationen und stellt diese Perspektiven nebeneinander. Zudem verwendet es für ein Museum ungewohnte Methoden, Objekte auszustellen.

„Dass die Uniformen tiefer liegen als der normale Boden, das macht etwas mit einem“, meint Mara. „Es sieht fast so aus, als ob die Menschen schon in einem Grab liegen,“ ergänzt Julia. „Es ist nicht alles abgesperrt oder hinter Glas. Man steht vor den Uniformen, man sieht die persönlichen Gegenstände, ohne das etwas dazwischen ist“, sagt Adrian. Julia und Mara hat besonderes die museale Inszenierung beeindruckt: „Von jeder Seite wird etwas gezeigt, nicht nur die Erklärungen in drei Sprachen Französisch, Deutsch und Englisch, sondern die Gegenstände der Soldaten liegen nebeneinander, das vermittelt eine besondere Atmosphäre und beeindruckt.“ „Ja, alles liegt nebeneinander“, fügt Adrian hinzu, „man sieht das es verschieden ist, aber doch gleich. Die Gegenstände waren ähnlich, alle Soldaten haben dasselbe Leid erlebt egal auf welcher Seite sie standen – und hinterher macht es sowieso keinen Unterschied auf welcher Seite man stand oder für welches Land man gestorben ist.“

„Hinterher“ – was bleibt? Gewiss, Sieg und Niederlage, aber für alle Tod und Trauer. Damit werden wir auf der nächsten Station konfrontiert, in Rancourt. Dort liegen ein französischer, ein britischer und ein deutscher Soldatenfriedhof in Sichtweise nebeneinander. Wir besuchen den britischen Friedhof.

Besonders fällt die Gestaltung der Grabsteine auf. Oft tragen sie eine Inschrift, die von den Hinterbliebenen entworfen wurde. Die Eltern von Private Burrowes, gefallen im Alter von 18 Jahren, schrieben: „In loving sweet memory of our dearly be loved son.“ Die Mutter von Private Daniels, gefallen im Alter von 24 Jahren, schrieb: „To dearly loved to be forgotten, mother.“

„Der britische Friedhof war sehr berührend. Auf den Grabsteinen standen Sprüche, die mich sehr berührt haben. Was waren die traurigen Geschichten dahinter?“ fragt sich Julia. „Die Angehörigen haben sehr persönliche Texte geschrieben, die unter die Haut gehen. Man bekommt einen sehr direkten Kontakt mit dem, was der Tod jedes einzelnen Menschen ausgelöst hat,“ findet Mara.

Die dritte Station ist der Krater bei la Boissel, der „Lochnagar-Karter“. Hier begann am Morgen des 1. Juli 1916 die Somme-Schlacht mit einer gewaltigen Explosion. Noch am gleichen Tag fielen über 20.000 britische Soldaten. Bis Mitte November hatte sich die Front nur um wenige Kilometer verschoben und eine Millionen Menschen waren tot, verstümmelt oder vermisst.

Das alles ist mehr als 100 Jahre her. Warum soll man daran heute noch erinnern? Die Schüler aus Helmstedt geben eindeutige Antworten. „In jeden Ort sind hier große Friedhöfe. Man merkt, wie präsent der Krieg ist. Es ist erdrückend, wenn man auf den Friedhöfen in dem Meer von Kreuzen steht,“ sagt Adrian. „Nie wieder ist jetzt“, erklärt Mara. „Wir sehen das nun, und uns ist klar, dass wir auf gar keinen Fall irgendeine Art von Krieg haben wollen. Hier merkt man was passiert ist.“ Auch Julia stimmt zu: „Man sieht immer noch die Schäden, die Spuren im Gelände und die vielen Friedhöfe, da steckt die ganze Geschichte von so vielen Menschen dahinter.“

Wir beenden den Tag in Amiens. In der Stadt pulsiert das Leben. Sie wurde im August und September 1914 von deutschen Truppen besetzt und dann erneuet im Zweiten Weltkrieg von 1940 bis 1944. Heute sind wir als deutsche Gruppe willkommen, wir genießen die friedliche Atmosphäre der Stadt – was für ein Kontrast zu den Friedhöfen und Zerstörungen, die wir am Vormittag sahen.

Ich erinnere mich an Jules Isaac, ein französischer Historiker und Schulbuchautor. In einem Aufsatz analysierte er 1937 die Kriegsursachsen von 1914. Am Ende stand seine Schlussfolgerung: Hinterher wisse man es immer besser.

„Après combien de morts, combien de souffrances, combien de deuils… ma seule conclusion: la Paix.“ – „Nach wieviel Toten, nach wieviel Leiden, nach wieviel Trauer… meine einzige Schlussfolgerung: Frieden.“

Tag 5 – Donnerstag 22. August

Wir fahren zur letzten Station unserer Reise in Frankreich, nach Rethondes bei Compiègne. Dort wurde am 11. November 1918 der Waffenstillstand unterzeichnet, der die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs an der Westfront beendete und die deutsche Niederlage besiegelte – ein dauerhafter Frieden folgte nicht. Keine 22 Jahre später, am 22. Juni 1940, unterzeichneten Deutsche und Franzosen am gleichen Ort wieder einen Waffenstillstand. Dieser beendete die Kampfhandlungen nach dem deutschen Angriff auf Frankreich vom 10. Mai 1940 und war bewusst als Revanche für den 11. November 1918 angelegt. Nun war Frankreich der Verlierer – erneut folgte kein Frieden, sondern ein zweiter Weltkrieg, der erst am 8. Mai mit der totalen Niederlage des Deutschen Reichs und mit der Befreiung von der Diktatur der Nationalsozialisten endete.

Der Ort, an dem auf der Lichtung im Wald von Rethondes 1918 der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, entwickelte sich in den 1920er Jahren zu einem wichtigen Gedenkort des französischen Sieges. Die Stellen, an denen die Eisenbahnwagen der französischen und deutschen Delegation standen, markieren große Gedenksteine. Eine mächtige Gedenkplatte deutet in französischer Sprache Frankreichs Sieg:

„Ici le 11 novembre 1918 succomba le criminel orgueil de l’empire allemand vaincu par les peuples libres qu’il prétendait asservir. “

(„Hier unterlag am 11. November 1918 der frevlerische Hochmut des Deutschen Reichs, besiegt von den freien Völkern, die zu unterjochen es beansprucht hatte.“)

Ein anderes Denkmal feiert die Rückkehr Elsass-Lothringens nach Frankreich. Es zeigt einen Adler, der von einem Schwert durchstochen wird.

Zunächst überraschen diese Denkmale die Schülerinnen und Schüler aus Helmstedt. „Die Denkmäler zeigen die Frustration,“ sagt Magomed, „die in Frankreich entstanden ist durch die Zerstörungen, die der Krieg und die Deutschen verursacht hatten. Vor dem Hintergrund dessen, was wir während der vergangenen Tage gesehen haben, kann man die Aussagen der Denkmäler nachvollziehen, warum sie so errichtet worden sind.“

Ein Eisenbahnwagon der gleichen Serie, in dem die Waffenstillstände 1918 und 1940 unterzeichnet wurden, befindet sich in einem kleinen Museum.

Eine Ausstellung gibt zusätzliche Informationen über die Ereignisse vom 11. November 1918 und über die Geschichte des Ortes bis zum Waffenstillstand 1940. Eine Reihe von Periskopen beeindrucken die Schülerinnen und Schüler.

Sie entdecken dreidimensionale Aufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg. Vanessa und Lara sind überrascht von dem, was sie mit den uralten Geräten entdecken: „Der Alltag der Soldaten, die Zerstörungen der Landschaft sind viel plastischer zu sehen als auf Filmen oder Fotos in den Museen. Man sieht die Gesichtsausdrücke der Soldaten und kann sich in sie hineinversetzen, was sie erlebt haben.“

Die Ausstellung zeigt wie Krieg, Tod, Zerstörungen und nationale Leidenschaften von einer Revanche zur nächsten führen. „Ich war überrascht davon, wie verfeindet Deutschland und Frankreich waren,“ erklärt Magomed, „wir kennen es ja nur so, dass man in Partnerschaft miteinander handelt. Aber früher gab es diese große Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich – das ist mir während der Fahrt klar geworden.“ Vanessa ergänzt: „Mit Blick auf die Vergangenheit ist es krass, dass heute so viel Vertrauen aufgebaut wurde.“

Und genau diese Botschaft übermittelt der Ort heute. Vor der großen Gedenkplakette befindet sich nämlich eine Tafel in französischer und deutscher Sprache:

„Anlässlich des 100. Jahrestages des Waffenstillstands vom 11. November 1918 haben der Präsident der Französischen Republik, Emmanuel Macron, und die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Angela Merkel, hier die Bedeutung der deutsch-französischen Aussöhnung im Dienste Europas und des Friedens bekräftigt.“

Dann klingt der Tag aus in einer Karaoke-Bar. Singen unter den Flaggen der Völker der Welt… was könnte besser zur Idee unserer Fahrt passen?

Tag 6 – Freitag 23. August

Der letzte Tag unserer Fahrt. Wir sind in Brüssel. Viele Institutionen der Europäischen Union haben hier ihren Sitz.

Wir besuchen zunächst das Parlamentarium. Hier wird die Geschichte der europäischen Einigung beschrieben und dann die Arbeit des Europäischen Parlaments vorgestellt.

Die EU wird oft als ein „Friedensprojekt“ beschrieben. Das Parlamentarium vermittelt, was hinter dieser Aussage steht, indem der Europagedanke seit dem Ersten Weltkrieg dargestellt wird.

Entlang einer Zeitleiste, die mit zahlreichen Fotos aus der Geschichte der europäischen Länder gefüllt ist, vertiefen Medienstationen wichtige Etappen der europäischen Einigung: die Montanunion, die Römischen Verträge, die sukzessiven Erweiterungen der ursprünglichen EWG bis zur heutigen EU.

„Ich fand die Medien gut, die genutzt werden, um die Beschäftigung mit dem Thema zu vereinfachen“, sagt Anna.

Großen Anklang findet der zweite Teil des Parlamentariums zur Arbeit des Europäischen Parlaments. „Mir gefiel besonders der Bereich, in dem man mit Hilfe von beweglichen Bildschirmen Projekte der EU ansehen kann und der Teil, wo Frage kamen, über die man abstimmen konnte. Man fühlte sich wie ein Parlamentarier, der an Abstimmungen teilnimmt,“ findet Katharina. – Das Parlamentarium machte Eindruck.

Nach einer Mittagspause gehen wir zum Haus der Europäischen Geschichte – ein Museum, das nicht die Nationalgeschichten der europäischen Länder nebeneinander stellt, sondern die Entwicklungen zeigt, die alle europäischen Länder in der einen oder anderen Form betrafen.

Auf sechs Stockwerken wird europäische Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart vermittelt: Politik-, Kriegs- und Gesellschaftsgeschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, kulturelle Entwicklungen, Geschichte des Alltags – das Leben der Europäer in all seinen Facetten.

Eine Leitfrage zieht sich durch alle Abteilungen: Was haben die Europäer gemeinsam? Und am Ende wird deutlich, dass die Gemeinsamkeiten der europäischen Nationen, ihre gemeinsamen Erfahrungen das Trennende bei weitem überwiegen.

Unsere Fahrt hat einen weiten Bogen geschlagen von den Schlachtfeldern und Friedhöfen des Ersten Weltkriegs über moderne Museen und Erinnerungsorte zur Europäischen Union von heute. Anna, Katharina und Mohammad formulieren ihre Eindrücke:

„Angefangen hat es mit dem Weihnachtsfrieden, wo man direkt gemerkt hat, dass Krieg überhaupt keinen Sinn macht und niemand Krieg möchte und das Europa als Friedensprojekt eigentlich für jeden eine Option sein sollte.“

„Mir bleiben die Bilder im Kopf von den Museen über den Ersten Weltkrieg, von den Menschen im Krieg, wie es ihnen ergangen ist, wie schlimm alles war, wie zerbombt alles aussah. Das war sehr heftig.“

„Ja, diese Bilder der Zerstörung kann man nicht vergessen. Was ich erstaunlich finde, das ist, wie friedlich wir jetzt in Europa leben, wie friedlich es hier ist und dass wir überall hinreisen können; beispielsweise wir jetzt, ohne Probleme zu haben, ohne Grenzen zu haben im Vergleich zur Vergangenheit, wo man sich so etwas gar nicht vorstellen konnte.“

Nun gibt es in Deutschland wie in Frankreich Politiker, die fordern, die eigene Nation an die erste Stelle zu setzen, die behaupten, dass diese EU sterben müsse, damit das wahre Europa leben könne. „Ich würde mit einer Rückfrage antworten“, reagiert Mohammad, „Hat Europa davor überhaupt gelebt, bevor die EU gegründet wurde? Wir habe es doch gesehen – und eigentlich weiß das jeder – wie das Leben damals war im Ersten und Zweiten Weltkrieg, wie zerstört alles war. Europa hat nicht gelebt – wie kann man erwarten, dass wir heute ohne die EU weiter in Frieden leben können? Ich habe es heute auch öfter gesehen und gemerkt, vielleicht ist der Grund für den Ersten und Zweiten Weltkrieg und für die Feindseligkeit im 20. Jahrhundert, dass jedes Land seine Eigenständigkeit gesucht hat und immer nur seine Interessen durchsetzen und erreichen wollte.“

Wir danken dem Niedersächsischen Ministerium für Euro- und Bundesangelegenheiten und Regionale Entwicklung sowie der Projektförderung Schulische Bildungsarbeit auf Kriegsgräberstätten aus Mitteln der Stiftung Gedenken und Frieden in Verwaltung der Abteilung Gedenkkultur und Bildung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge für die Förderung unserer Fahrt.

Dr. Rainer Bendick Bildungsreferent

Bezirksverband Braunschweig